Eigentlich hat die Politik in Großbritannien mit ihrem Brexit schon genug um die Ohren. Jetzt muss sich der Staat auch noch um einsame Herzen kümmern. Die Zahlen sprechen eine alarmierende Sprache: Jeder fünfte Brite leidet unter Einsamkeit. Die Gründe sind vielfältig. Steigende Mieten verdrängen immer mehr Menschen aus ihrem gewohnten Lebensumfeld. Und es sind vor allem die Älteren, die betroffen sind. Rund 200.000 SeniorInnen geben an, nicht mehr als einmal im Monat mit anderen Menschen ein Gespräch führen zu können.
Die neue Ministerin für Einsamkeit, Tracey Crouch, soll dies nun ändern. Den Stein ins Rollen gebracht hatte die Labour-Abgeordnete Jo Cox, die vor dem EU-Referendum von einem Rechtsextremisten ermordet wurde. Welche konkreten Schritte Tracey Crouch gegen die Einsamkeit unternehmen will, darüber herrscht noch weitgehend Unklarheit. Sicher ist: Einsamkeit ist gefährlich. Sie kann zur Depression und schlimmstenfalls in den Suizid führen. Was aber ist so bedrohlich und bedrückend an der Einsamkeit? Es ist wohl das Gefühl, ohne Halt, ungeborgen und völlig auf sich allein gestellt zu sein. Das Gefühl der Vereinzelung kann zu einer schier gegenstandslosen Angst anwachsen. Bei Menschen, die sich über einen längeren Zeitraum von allem abgeschnitten fühlen, werden dieselben Hirnareale aktiviert wie bei körperlichen Schmerzen.
Einsamkeit steckt an
Einsamkeit wird umso quälender und aussichtsloser empfunden, je schlechter ein Mensch darauf vorbereitet ist. Wer nie gelernt hat, mit sich selbst allein zu sein, wird die Phasen der Einsamkeit nur schwer oder gar nicht ertragen, wenn sie denn kommen. Der Mensch braucht beides: das Alleinsein und die Gesellschaft. Wenn die Balance nicht stimmt, gerät das Leben aus dem Takt. Kein Mensch hält das Alleinsein allzu lange aus. Wir sind soziale Wesen. Und der Trieb, im Schutz einer Gruppe zu leben, ist – wie auch bei Wölfen – so stark in uns angelegt, dass nach einer gewissen Zeit der Wunsch nach Austausch und Kontakt übermächtig in uns wird. Experten bezeichnen dieses Phänomen als „Wiederangliederungsmotiv“.
Lang andauernde Einsamkeit macht krank. Nicht nur psychosomatische Beschwerden können sich einstellen. Ganz real führt Einsamkeit auch dazu, sich selbst zu vernachlässigen. Die Betroffenen sorgen oft nicht mehr für ausreichend Nahrung und Bewegung oder sie vergessen die Medikamenteneinnnahme. Einsame Menschen sterben früher und erkranken häufiger an Demenz. Einsamkeit ist ein Teufelskreis. Denn wer einsam ist, neigt dazu, sich noch mehr zurückzuziehen. Außerdem ist Einsamkeit ansteckend. Studien zeigen: Wer mit einem einsamen Menschen befreundet ist, dem mangelt es innerhalb von zwei Jahren selbst an ausreichend Sozialkontakten.
Einsame Menschen sollten sich – auch wenn es noch so schwer fällt – immer wieder um Verbindungen außerhalb des eigenen Dunstkreises bemühen. Freunde oder zumindest Bekannte findet nur der, der sich dem Leben öffnet. Früher hatten die meisten Menschen ihre Familie, gute Nachbarn oder sie waren in Kirchen und Vereinen integriert, die sie vor abgrundtiefer Einsamkeit bewahrten. Doch die Single-Generation ist nun in einem Alter, in dem die selbst gewählte Unabhängigkeit ihre Schattenseiten offenbart. In Deutschland lebt jeder Dritte über 65 allein. Bei den RentnerInnen zwischen 65 und 75 beklagt sich jede(r) Zehnte über Einsamkeit; bei den ber 85-Jährigen jede(r) Fünfte. Mobilitätseingeschränkte Menschen, die ihre Wohnung kaum noch verlassen können, sind am stärksten von Einsamkeit betroffen. Das ergab eine Studie der Universität Bochum. Auch in Deutschland fordern deshalb immer mehr Politiker, es den Briten gleichzutun und einen „Beauftragen gegen Einsamkeit“ zu berufen. Viele bezweifeln allerdings, ob der bürokratische Weg der richtige zu mehr Solidarität ist.